Ein Kollege mit pochenden Kopfschmerzen kämpft sich durch den Arbeitstag.
Eine Verkäuferin schleppt sich mit Husten hinter die Kasse.
Eine Erzieherin geht trotz Erschöpfung zur Frühschicht, weil „sonst niemand übernimmt“.
Solche Szenen passieren jeden Tag – auch hier im Artland. Sie wirken unspektakulär, fast normal. Doch dahinter steckt ein Verhalten, das heute ein Zugeständnis an Leistungsdruck ist: Präsentismus, also das Arbeiten trotz Krankheit.
Lange wurde dieses Verhalten gelobt – als fleißig, belastbar oder loyal. Heute zeigen Studien: Präsentismus schadet der Gesundheit, kostet Unternehmen Geld und belastet Teams. Dieser Artikel erklärt, was hinter dem Phänomen steckt, welche Folgen es hat und wie Betriebe und Beschäftigte aus der Spirale ausbrechen können.
Inhaltsverzeichnis
1. Was ist Präsentismus – und wie häufig kommt er vor?
Präsentismus beschreibt, wenn Mitarbeitende trotz Krankheit arbeiten. Gemeint ist nicht der leichte Schnupfen, sondern erhebliche Beschwerden, die Erholung erfordern würden.
Forschungsinstitute und Krankenkassen nutzen dafür Messinstrumente wie die Stanford Presenteeism Scale, weil klassische Fehlzeitenstatistiken dieses Verhalten nicht erfassen.
Wie verbreitet ist Präsentismus?
Mehr als viele ahnen:
- Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) berichtet, dass über die Hälfte der Beschäftigten mindestens einmal im Jahr krank weiterarbeitet.
- Eine Analyse der Techniker Krankenkasse zeigt: Rund ein Viertel arbeitet „häufig oder sehr häufig“ krank.
- Wissenschaftler der LMU München stufen Präsentismus als regelmäßiges Verhalten in vielen Branchen ein.
Erstaunlich: Im Homeoffice ist das Verhalten laut Krankenkassen noch häufiger. Viele denken: „Ich kann ja wenigstens ein bisschen arbeiten.“
2. Wer ist besonders betroffen?
Präsentismus ist kein gleich verteiltes Phänomen. Besonders betroffen sind Bereiche, in denen:
- Verantwortung hoch,
- Personal knapp und
- Vertretung schwer möglich ist.
Beispiele:
- Pflege & Gesundheitswesen
- Kitas & soziale Dienste
- Einzelhandel & Gastronomie
- Büros und Projektarbeit mit Deadlines
Gerade in regionalen Einrichtungen – von Altenheimen bis Kindergärten – berichten Beschäftigte: „Wenn ich fehle, bricht alles zusammen.“
3. Folgen für die Gesundheit
Kurzfristig scheint das Durchhalten effizient. Langfristig warnen Ärztinnen und Arbeitspsychologen:
- Erkrankungen verschleppen sich
- Beschwerden chronifizieren sich
- psychische Probleme verstärken sich
Viele Betroffene schildern:
„Ich komme nicht mehr richtig auf die Beine.“
Was die Forschung zeigt
- Präsentismus erhöht das Risiko, später länger auszufallen.
- Die LMU München berichtet, dass Beschäftigte mit wiederkehrendem Präsentismus deutlich häufiger von Burnout-Symptomen, Schlafproblemen oder Konzentrationsstörungen berichten.
- Selbst bei vermeintlich „kleinen“ Infekten kann das Immunsystem zusammenbrechen, wenn keine Ruhephase erfolgt.
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4. Folgen für Teams, Betriebe und Wirtschaft
4.1 Auswirkungen im Team
Wer krank arbeitet,
- bringt weniger Leistung,
- macht eher Fehler,
- verschlechtert Stimmung („Warum zwingt man sich hier krank rein?“),
- erhöht Ansteckungsrisiken.
In kleinen Betrieben oder Schichtsystemen – wie sie im regionalen Handwerk, Pflege oder Einzelhandel häufig sind – wirkt das besonders stark.
4.2 Auswirkungen für Unternehmen
Bei Präsentismus ist das Problem unsichtbar:
Es gibt keine Krankmeldung, keine Statistik – aber weniger Leistung.
Mehrere deutsche Untersuchungen belegen:
- 4 bis 11 Prozent Produktivitätsverlust durch Präsentismus
- bei psychischen Erkrankungen höhere Kosten als bei Fehlzeiten
Warum?
Weil Erkrankte zwar anwesend sind, aber weniger schaffen, Fehler machen oder länger für Aufgaben benötigen.
4.3 Folgen für die Wirtschaft
Volkswirtschaftliche Analysen zeigen:
Präsentismus verursacht mindestens so hohe Kosten wie Absentismus – wahrscheinlich mehr.
Doch: Forschungseinrichtungen weisen darauf hin, dass die exakten Summen schwer berechenbar sind, weil Präsentismus selten dokumentiert wird.
5. Wie stark Branchen betroffen sind – ein Blick in die Zahlen
Dass Präsentismus überall vorkommt, zeigen zahlreiche Untersuchungen. Doch einige Tätigkeitsfelder sind deutlich stärker betroffen – vor allem dort, wo Verantwortung groß ist und Personal knapp.
Pflege und soziale Berufe: Extrem hohe Werte
In einer Auswertung der Barmer gaben fast 50 Prozent langjähriger Pflegekräfte an, regelmäßig krank zu arbeiten.
Der DGB-Index „Gute Arbeit“ zeigt in seinen Befragungen sogar eine Quote von über 70 Prozent in Pflege-, Erziehungs- oder Reinigungsberufen.
Die Gründe sind nachvollziehbar: Personalmangel, Pflichtgefühl und fehlende Vertretung.
Einzelhandel: Hohe Belastung, oft unterschätzt
Auch der Handel zählt zu den Branchen mit hohem Präsentismus.
Ein Branchenreport der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) zeigt, dass rund zwei Drittel der Beschäftigten im Groß- und Einzelhandel mindestens einmal im Jahr krank arbeiten – im Einzelhandel sogar etwa 68 Prozent.
Kundennähe, Schichtsysteme und dünne Personaldecken tragen dazu bei, dass Beschäftigte „durchhalten“, obwohl sie krank sind.
Andere Bereiche: ebenfalls betroffen, aber weniger sichtbar
Auch in Büro- und Wissensberufen ist Präsentismus verbreitet – oft befördert durch Projektarbeit, Deadlines und digitale Erreichbarkeit.
Hier zeigt sich ein neues Muster: Viele arbeiten krank weiter, weil Homeoffice das Gefühl vermittelt, wenigstens etwas tun zu können.
Fazit aus den Zahlen
Die Daten verdeutlichen:
Krankheit wird häufig aus strukturellen Gründen verschleppt, nicht aus persönlicher Wahl.
Präsentismus ist kein Randphänomen.
Besonders hoch ist er in Pflege, Sozialwesen und Handel.
| Branche | Anteil der Beschäftigten, die krank arbeiten | Typische Ursachen | Quellenbasis |
|---|---|---|---|
| Pflege & Sozialwesen | 50–70 % | Personalmangel, Verantwortung für Menschen, fehlende Vertretung | Barmer-Studie // DGB-Index Gute Arbeit |
| Einzelhandel | ~ 65–68 % | Schichten, Kundendruck, knappe Besetzung, geringe Ausfälle möglich | BGHW / DAK Branchenreport Handel |
| Reinigung / Erziehungsberufe | > 70 % | hohe Belastung, geringe Anerkennung, wenig Vertretungsoption | DGB-Index Gute Arbeit |
| Gesundheitswesen allgemein | 45–55 % | hohe Belastung, geringe Anerkennung, wenig Vertretungsoption | Krankenkassenberichte (TK, Barmer) |
| Büro- und Wissensarbeit | 40–55 % | hohe Belastung, geringe Anerkennung, wenig Vertretungsoption | BAuA / TK |
| Öffentlicher Dienst / Verwaltung | 40–50 % | hohe Belastung, geringe Anerkennung, wenig Vertretungsoption | BAuA / DGB-Analysen |
| Gesamtbevölkerung (branchenübergreifend) | > 50 % mindestens einmal pro Jahr | hohe Belastung, geringe Anerkennung, wenig Vertretungsoption | BAuA, TK, LMU Auswertungen |
6. Warum arbeiten Menschen krank weiter?
Die Motive sind vielfältig:
Individuelle Gründe
- Pflichtgefühl („Ich lasse das Team nicht hängen.“)
- Angst vor schlechter Bewertung
- Perfektionismus („Ich kann das nicht liegen lassen.“)
Strukturelle Ursachen
- Personalmangel
- kein Vertretungssystem
- Termindruck
Kulturelle Muster
Viele Betriebe – auch regional – vermitteln unbewusst:
„Nur wer da ist, leistet etwas.“
Digitale Strukturen verstärken das Phänomen:
„Ich bin ja ohnehin online – dann kann ich arbeiten.“
7. Gegenmaßnahmen: Was wirklich hilft
Die Forschung liefert konkrete Stellschrauben.
7.1 Führung und Kultur
Eine gesunde Botschaft lautet:
„Wer krank ist, kuriert sich aus – ohne Nachteile.“
Was wirkt:
- Führungskräfte gehen selbst nicht krank arbeiten
- regelmäßige Gespräche über Belastung
- keine stille Anerkennung für „Heldentum“
7.2 Klarere Organisation
Präsentismus verstärkt sich dort, wo niemand weiß, was passiert, wenn jemand fehlt.
Hilfreich sind:
- feste Vertretungsroutinen
- Priorisierung („Was kann warten?“)
- realistische Zeitplanung
7.3 Homeoffice-Regeln
Ein Satz schafft Orientierung:
„Krank ist krank – auch im Homeoffice.“
So nehmen Mitarbeitende Krankheitstage ernst – egal, wo sie arbeiten.
7.4 Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM)
Krankenkassen wie TK, AOK oder Barmer bieten:
- Stresskurse
- Rückenprogramme
- Schlafberatung
- psychologische Hotlines
Viele Betriebe – auch regionale Einrichtungen oder Pflegeanbieter – nutzen diese Leistungen bereits.
7.5 Beschäftigte stärken
Für Mitarbeitende gilt:
- Symptome ernst nehmen
- mit Führungskräften sprechen
- bei wiederkehrender Überlastung ärztlichen Rat einholen
Gesundheit vor Leistung – sonst wird aus kurzfristigem Pflichtgefühl langfristiger Verlust.
8. Fazit
Präsentismus wirkt unscheinbar, aber die Folgen sind groß.
Wer krank arbeitet, riskiert:
- eigene Gesundheit,
- Teamleistung,
- wirtschaftliche Stabilität.
Für Unternehmen gilt:
Gesundheit ist kein Kostenfaktor – sie ist Grundlage für Leistung.
Für Beschäftigte gilt:
Es ist kein Zeichen von Stärke, krank zu funktionieren – sondern ein Risiko.
FAQ
Was ist Präsentismus?
Das Arbeiten trotz Krankheit.
Wie häufig tritt das auf?
Laut BAuA und Krankenkassen mindestens einmal im Jahr bei mehr als der Hälfte der Beschäftigten.
Ist Homeoffice ein Risiko?
Ja – viele fühlen sich dort eher verpflichtet, krank zu arbeiten.
Warum machen Menschen das?
Pflichtgefühl, Personalmangel, fehlende Vertretung, Angst vor Nachteilen.
Was macht Präsentismus gefährlich?
Er verschleppt Krankheiten, erhöht psychische Belastung und kostet Leistung.
Was hilft?
Gesunde Führung, klare Regeln, Vertretungsmodelle und Gesundheitsangebote.
Wer kann unterstützen?
Betriebsärzte, Betriebsrat, Krankenkassen, psychologische Beratung.